23. Mai 2016
Mit einem Festkolloquium ehrten rund 200 Gäste aus dem In- und Ausland den Experimentalphysiker Univ.-Prof. Dr. Werner Heil als herausragenden Wissenschaftler und geschätzten Kollegen. Offiziell ist er damit in den Ruhestand verabschiedet, doch tatsächlich bleibt er dem Institut für Physik und dem Exzellenzcluster PRISMA an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) als Senior-Forschungsprofessor erhalten. Heil wird weiter auf dem Gebiet forschen, das er in Mainz etabliert hat: der Untersuchung von ultrakalten Neutronen.
Über der Bürotür hängt eine Collage in einem goldfarbenem Rahmen. Als Vorlage diente wohl ein Ölgemälde aus dem 17. oder 18. Jahrhundert. Vielleicht saß damals ein preußischer Potentat Modell. Jedenfalls ist die blaue Uniformbrust mit einer Vielzahl von Orden geschmückt. Die Körperhaltung des Herrn ist steif und würdevoll. An dem hohen Uniformkragen endet das Original allerdings abrupt. Univ.-Prof. Dr. Werner Heils Konterfei ist ins Gemälde montiert. Auf dem Kopf trägt der Experimentalphysiker einen schlichten schwarzen Hut. Er lächelt freundlich über die Orden hinweg.
"Das war ein Geschenk der Kolleginnen und Kollegen", erzählt Heil, der hinter seinem Schreibtisch sitzt und so gar nichts von einem preußischen Potentaten ausstrahlt. Vor Kurzem wurde der Mainzer Experimentalphysiker mit einem großen Festkolloquium offiziell in den Ruhestand verabschiedet. Doch das will in seinem Fall nicht viel heißen: Er wird für mindestens zwei weitere Jahre als Senior-Forschungsprofessor am Institut für Physik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz bleiben. Er will noch eine Weile weiter auf dem Gebiet der ultrakalten Neutronen forschen und dabei den Weg für seinen Nachfolger bereiten.
Neutronen bremsen
"Soll ich Ihnen ein bisschen von dem erzählen, was ich mache?", fragt der 65-Jährige. Kurz hält er inne, als wäre eine positive Antwort nicht selbstverständlich. Dann beginnt die Reise in die Welt der Elementarteilchen.
"Das Ganze begann 2001 mit einem Workshop in St. Petersburg. Es ging um Ideen, wie man hohe Ausbeuten von abgekühlten Neutronen bekommen kann." Wenn Neutronen in einem Reaktor produziert werden, werden sie auf Raumtemperatur gekühlt. "Wir wollten sie noch mal wesentlich weiter herunterkühlen, bis fast zum absoluten Nullpunkt. In diesem Zustand werden sie sehr langsam." Gerade mal fünf Meter legen sie in der Sekunde zurück. "Das Fantastische ist: Man kann sie dann in Gefäßen speichern, zum Beispiel in Glasflaschen. Und wenn man sie speichern kann, kann man sie auch beobachten."
Heil nestelt an einer Büroklammer. Während er den Draht auseinanderbiegt, bemüht er sich, einfach zu formulieren: "Nun könnte man sagen, dass so ein Neutron ein bisschen langweilig sei. Was will man da beobachten?" Rund die Hälfte aller Materie besteht aus Neutronen. Zusammen mit den Protonen bilden sie die Atomkerne. "Wenn Neutronen im Kern gebunden sind, bleiben sie in der Regel stabil. Wenn ein Neutron aber aus dem Kern herauskommt, zerfällt es in etwa 15 Minuten." Die genaue Dauer dieses Zerfalls interessiert Heil brennend.?
880 Sekunden Leben
"Die Sache ist einfach. Sie füllen zum Beispiel 1.000 Neutronen in eine Flasche und schauen nach einer Viertelstunde nach, wie viele noch am Leben sind." Das mag zwar einfach sein, ist aber nicht besonders präzise. "Wir können so die Lebensdauer nicht genauer als bis auf die Sekunde bestimmen." Sie liegt bei rund 880 Sekunden.
Die Beschaffenheit der Flasche ist das Problem. "Die Neutronen reagieren mit der Flaschenwand. Sie werden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit absorbiert." Es ist also nicht klar, welches Neutron zerfallen ist und welches die Flaschenwand geschluckt hat. Deswegen muss die Wand weg.
"Man kann ultrakalte Neutronen auch in einem Magnetfeld speichern." Genau das tut Heils Arbeitsgruppe. Er zeigt ein Foto aus dem Mainzer Forschungsreaktor TRIGA. Eine vier Meter hohe grüne Tonne ist zu sehen. In ihr wird ein starkes und komplexes Magnetfeld erzeugt. "So gibt es für die Neutronen keine Wände mehr, sondern nur Feldkonfigurationen, die es erlauben, das Neutron über sein magnetisches Moment zu speichern. Das Neutron kann man sich dabei als kleinen Elementarmagneten vorstellen, der über seine magnetische Wechselwirkung mit dem angelegten Feld in einer Art Fallenpotenzial gefangen bleibt."
Damit kann eine neue Generation von Experimenten starten, die weit weniger systematische Unsicherheiten aufweisen als die Speicherexperimente mit Gefäßen. "Wir erhoffen uns Messungen, die auf 0,2 bis 0,3 Sekunden genau sind." Heil betont, dass dies nicht alles ist, was sich mit ultrakalten Neutronen messen lässt. Aber immerhin: "Es ist ein Paradebeispiel dessen, was möglich ist."
Elemente des Universums
Wichtig sind die Messungen unter anderem für Astronomen. "Sie interessieren sich für die Zusammensetzung der Elemente im Universum." In der Frühphase waren Neutronen und Protonen noch voneinander getrennt. Es dauerte einen Moment, bis sie zu Atomkernen zusammenkamen. "Das alles passierte in den ersten Minuten des Universums." Doch wie viele Neutronen waren bis dahin schon zerfallen und standen daher der Bildung von leichten Elementen im Universum nicht mehr zur Verfügung? Die präzise Bestimmung der Lebensdauer von Neutronen liefert ein wichtiges Puzzleteil für ein genaueres Bild von der Zusammensetzung des Universums.
Die Büroklammer ist jetzt kaum mehr als solche zu erkennen. Dafür ist das Bild von Heils Forschung klarer. Mit Neutronen beschäftigt sich der Experimentalphysiker bereits seit Jahrzehnten. Nach seiner Promotion am Institut für Kernphysik der JGU forschte er für ein Jahr in Paris und im Anschluss an seine Habilitation drei Jahre in Grenoble. "Das war von 1996 bis 1999." Dann folgte der Ruf auf eine Professur für Experimentalphysik an die JGU.
In dieser Zeit forschte Heil zur Struktur der Neutronen. "Protonen sind positiv geladen, Elektronen negativ und Neutronen, wie der Name schon sagt, elektrisch neutrale Teilchen, zumindest nach außen hin. Mit der 'Lupe' betrachtet besitzt das Neutron als komplexes System, das sich aus weiteren Unterstrukturen, den Quarks, zusammensetzt, eine intrinsische Ladungsverteilung, die man damals noch nicht richtig kannte. Als 'Lupe fungierten hochenergetische Elektronen des Mainzer Beschleunigers MAMI, mit denen die Ladungsstruktur des Neutrons in Streuexperimenten untersucht und sichtbar gemacht werden konnte.".
Blick in die Lunge
"Schließlich haben wir 1994 mit den Experimenten begonnen, die 20 Jahre später ihren Abschluss fanden. Die Mainzer Messungen werden bis heute in jedem Lehrbuch zu dem Thema zitiert."
Damit nicht genug: Es stellte sich heraus, dass die Erkenntnisse auch für andere, völlig unerwartete Zwecke genutzt werden konnten. Heil beteiligte sich an der Entwicklung eines neuartigen Verfahrens zur Magnetresonanztomografie, das auf seine Messungen im MAMI aufbaute. Mithilfe von polarisiertem Helium 3, das bereits in den Streuexperimenten als Ersatz für ein freies polarisiertes Neutronentarget diente, gelang es, sehr genaue Bilder von der Lunge zu bekommen. Die Idee ist dabei recht einfach: Man inhaliert einen Bolus dieses Gases und hat in Sekundenschnelle ein hoch aufgelöstes Bild. Heil war einer der Forscher, die für diese Leistung mit dem höchst renommierten und hoch dotierten Körber-Preis für Europäische Wissenschaft ausgezeichnet wurden.
Der Experimentalphysiker könnte noch einiges erzählen. Ein Forscherleben wie seines passt unmöglich in eine Gesprächsstunde. "Aber einen ersten Eindruck haben Sie jetzt", meint er zum Abschied..
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