13.11.2020
Javier Fuentes Martin ist auf der Suche nach „neuer Physik“, die das Standardmodell der Teilchenphysik erweitert. Seit Oktober forscht der 31-jährige theoretische Physiker am Mainzer Institut für Theoretische Physik (MITP), einem internationalen Zentrum für theoretische Physik am Exzellenzcluster PRISMA+. Dort hat er ein dreijähriges „Senior Postdoctoral Fellowship“ inne. Er schätzt die Flexibilität, die ihm das Stipendium bei seinen Forschungsprojekten bietet, genauso wie die Möglichkeit, sich unter dem Dach des MITP mit der weltweiten Community in theoretischer Physik bestmöglich zu vernetzen. Denn genau das ist das Ziel des MITP: angesichts der zahlreichen Forschungsrichtungen und Publikationen in den verschiedenen Bereichen der theoretischen Physik alle wichtigen Entwicklungen zu verfolgen und bei allen zukunftsweisenden Themen am Ball zu bleiben. Dazu laden die Verantwortlichen führende Physikerinnen und Physiker aus aller Welt ein, einmal im Jahr Anträge für zwei- bis vierwöchige Programme einzureichen oder einwöchige Workshops zu Themen zu organisieren, die sie für besonders spannend und zukunftsrelevant halten. So kommen pro Jahr etwa 500 Gäste ans MITP, aus bisher mehr als 40 Ländern rund um den Globus. „Hier am MITP als Postdoc zu forschen und zu netzwerken, ist für mich eine einmalige Chance, meine wissenschaftliche Laufbahn und Entwicklung entscheidend voranzutreiben“, fasst Javier Fuentes Martin zusammen, was ihn bewogen hat, sich um das Stipendium in Mainz zu bewerben.
Das Hauptforschungsgebiet von Javier Fuentes Martin ist die Flavour-Physik. Im Standardmodell der Teilchenphysik kommen die elementaren Bausteine der Materie, die so genannten Quarks und Leptonen, beide in sechs verschiedenen Arten oder Flavours vor. Diese sind in drei Familien gruppiert, die sich nur in der Masse ihrer Mitglieder und in der Art und Weise ihrer Wechselwirkung untereinander unterscheiden. Warum es genau drei Familien gibt und warum sie sich in der Masse unterscheiden, während sie ansonsten genau die gleichen Eigenschaften haben, sind Fragen, die seit langem unbeantwortet sind – dies ist das so genannte Flavour Puzzle des Standardmodells. Javier Fuentes Martin nähert sich diesen Fragen aus theoretischer und phänomenologischer Sicht und entwirft Modelle, die eine Erklärung liefern können. Konkret konstruiert er Modelle, die – beeinflusst durch aktuelle experimentelle Daten – über das Standardmodell hinausgehen. Hierzu definiert er mögliche experimentelle Ansätze, die diese Modelle verifizieren oder widerlegen könnten. „Die Flavour-Physik kann uns eine Tür öffnen, die den Blick auf eine neue Physik freimacht“, beschreibt Javier Fuentes Martin die Faszination, die ihn bei seiner Forschung antreibt.
Insbesondere die experimentellen Daten von Flavour-Fabriken wie dem LHCb-Detektor des Large Hadron Collider am CERN und dem Belle-Detektor am Beschleuniger KEK in Japan, haben aufregende Ergebnisse und Hinweise auf eine solche neue Physik geliefert, die nun theoretisch interpretiert werden müssen. Diese Experimente untersuchen unter anderem den Zerfall von B-Mesonen, die bei Teilchenkollisionen im Beschleuniger entstehen, in Leptonen. Mesonen sind zusammengesetzte Teilchen aus einem Quark und einem Antiquark: B-Mesonen sind solche, die ein b-Quark – ein Mitglied der dritten oder schwersten Quark-Familie – enthalten. Im Gegensatz zu den Quarks sind Leptonen Elementarteilchen, die die starke Wechselwirkung nicht spüren und daher keine zusammengesetzten Teilchen bilden. Das Standardmodell sagt voraus, dass B-Meson-Zerfälle in Leptonen unabhängig von der Leptonenfamilie mit nahezu derselben Frequenz stattfinden – eine Eigenschaft, die allgemein als Lepton-Flavour-Universalität bekannt ist. LHCb- und Belle-Messungen scheinen jedoch darauf hinzuweisen, dass solche Zerfälle in Leptonen der schwereren Familien häufiger auftreten. „Diese Hinweise auf die Verletzung der Lepton-Flavour-Universalität können entscheidende Informationen für die Lösung des Flavour Puzzles liefern“, folgert Javier Fuentes Martin.
Er untersucht diese „Flavour-Anomalien“ derzeit besonders intensiv. In seinen Berechnungen und theoretischen Überlegungen betritt ein neues exotisches Teilchen die Bühne – das Leptoquark. „Als Vermittler einer neuen Kraft würde das Leptoquark zum ersten Mal den Leptonenteil des Standardmodells direkt mit dem Quarkteil koppeln“, erläutert Javier Fuentes Martin. Mehr noch: „Das Leptoquark-Modell, das die richtigen Eigenschaften zur Erklärung der anomalen B-Meson-Zerfälle besitzt, vereinigt auch Quarks und Leptonen zu einem einzigen Teilchenmultiplett. Diese Idee ist sehr verlockend, denn beide Teile des Standardmodells mit ihren drei Familien sind in Bezug auf die Flavours verdächtig ähnlich strukturiert – aber ähnlich schlecht verstanden.“
Noch ist aufgrund der Daten nicht klar, ob die „Flavour-Anomalie“ eine echte Manifestation von „neuer Physik“ ist – hierzu sind weitere Messungen erforderlich, die Javier Fuentes Martin zusammen mit theoretischen Physikern auf der ganzen Welt mit Spannung erwartet. In den kommenden Jahren werden die Experimente LHCb und Belle II - der Nachfolger von Belle - eine Fülle neuer Messungen liefern, die Licht in das Flavour-Rätsel bringen werden. „Wir erleben gerade eine sehr aufregende Zeit in der Flavour-Physik“, so Javier Fuentes Martin abschließend.
Für die nächsten drei Jahre stehen in Mainz weitere spannende Themen auf der Agenda von Javier Fuentes Martin. Während er die neuen LHCb- und Belle-II-Daten erwartet, wird er nach möglichen Abdrücken eines Flavour-Modells im Kosmos suchen. Diese könnten sich zum Beispiel in Form von Gravitationswellen manifestieren, deren Signaturen in den Experimenten der nächsten Generation entdeckt werden könnten. In jedem Fall freut er sich auf einen intensiven Austausch mit zahlreichen Kollegen und auf viele Inspirationen sowie neue Ansätze und Ideen.