Theoretische Physiker kalkulieren Herkunft einer hochenergetischen Teilchenspur im Neutrinoobservatorium IceCube
19.06.2018
Vor acht Jahren wurde am Südpol der IceCube-Detektor in Betrieb genommen, eine Forschungsstation zur Suche nach Neutrinos aus dem Weltall. Drei Jahre später erschienen die ersten bahnbrechenden Ergebnisse. Die Entdeckung von hochenergetischen Neutrinos durch IceCube hat neue Wege zum Verständnis des Universums eröffnet. "Diese Neutrinos mit ihrer hohen Energie sind neue kosmische Boten und es ist außerordentlich wichtig, dass wir ihre Nachricht genau verstehen", sagt Dr. Ranjan Laha von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Der Physiker hat zusammen mit einem Kollegen der US-amerikanischen Stanford University einen Vorschlag unterbreitet, wie die kosmische Botschaft – anders als bisher – interpretiert werden könnte. Nach Berechnung der beiden Physiker könnte es sich um extrem hochenergetische Tau-Partikel handeln, die den IceCube-Detektor passiert haben.
Neutrinos sind fast masselose Teilchen, die Materie nahezu unbemerkt durchdringen und daher sehr schwer zu entdecken sind. Aus dem gleichen Grund sind die Geisterteilchen für die Wissenschaft aber auch besonders wertvoll – weil sie aus den Tiefen des Weltalls zum Beispiel von explodierten Sternen fast ungehindert bis zur Erde vordringen und uns hier von dem Geschehen im Kosmos berichten. Beim Neutrinoobservatorium IceCube liegen die einzelnen Detektorelemente gut abgeschirmt von Störfaktoren im antarktischen Eis, verteilt auf ein Volumen von einem Kubikkilometer. Das Projekt vermeldete 2013 zum ersten Mal die Entdeckung hochenergetischer Neutrinos aus dem All, seitdem wurden zahlreiche weitere Ereignisse verzeichnet. Die IceCube-Kollaboration besteht aus 300 Physikern von 49 Institutionen in 12 Ländern, die für das wissenschaftliche Programm verantwortlich sind, darunter auch Forscher der JGU.
Hochenergetische Spur stammt vermutlich nicht von Myon-Neutrino
Matthew Kistler von Stanford und Ranjan Laha haben die Ereignisse untersucht und sind dabei vor allem einem Rätsel nachgegangen: Im Juni 2014 verzeichneten die Sensoren von IceCube eine Spur mit einer außergewöhnlich hohen Energie. Das Ereignis gab 2,6 Petaelektronenvolt (PeV) ab, also 2,6 Billiarden Elektronenvolt. Zum Vergleich: Zusammenstöße von Protonen im größten Teilchenbeschleuniger der Welt, dem Large Hadron Collider am CERN, erfolgen mit einer Energie von 13 Billionen Elektronenvolt.
"Diese Spur vom Juni 2014 wirft sofort Fragen auf", sagt Laha mit dem Hinweis, dass es sich bis heute um das Ereignis mit der höchsten Energie handelt. "Vor allem die Frage, welche Art von Neutrino eine solche Spur hinterlässt." Es gibt drei Arten von Neutrinos: Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos.
Auf der Suche nach einer Antwort haben sich die beiden Physikkollegen zunächst der Standardannahme zugewandt, nämlich dass die Spur von einem Myon abstammt. Ein Myon-Neutrino hätte sich bei einem Zusammenstoß mit einem Atomkern in ein Myon umgewandelt, das von den optischen Sensoren des IceCube-Detektors entdeckt worden wäre. "Wir zeigen, dass diese Annahme ziemlich unwahrscheinlich ist", so Laha. Stattdessen erwägen die Wissenschaftler die Möglichkeit, dass die Spur von einem hochenergetischen Tau-Lepton stammen könnte – eine komplett neue und unkonventionelle Deutungsweise. Um 2,6 PeV im Detektor abzugeben, bräuchte das entsprechende Tau-Neutrino eine Anfangsenergie von mindestens 50 PeV. "Ein Tau-Teilchen, das den Detektor auf einer Länge von einem Kilometer ohne Zerfall durchläuft und dabei eine Energie von 2,6 PeV abgibt, müsste von einem Neutrino mit einer wesentlich höheren Energie stammen", erklärt Laha. "Dies würde ein völlig unerwartetes Fenster öffnen, um astrophysikalische Neutrinos mit Energien bei 100 PeV wahrzunehmen."
Im Rahmen ihrer Untersuchung zeigen die Wissenschaftler, dass es sich bei dem 2,6-PeV-Ereignis vermutlich um eine neuartige Komponente des astrophysikalischen Neutrinospektrums handelt. Bei den Ereignissen, die IceCube verzeichnet, wäre normalerweise eine gewisse Kontinuität zu erwarten. Der Abstand zwischen dem genannten Ereignis mit der bis heute höchsten Energie und den anderen gemessenen Daten ist allerdings ungewöhnlich groß.
"Wir wissen nicht genau, um was für eine Spur es sich bei den 2,6 PeV handelt, aber mit ziemlicher Sicherheit nicht um ein durchziehendes Myon, vielleicht aber um ein Tau-Teilchen", so Laha. "Wir halten das Ereignis insgesamt für so bedeutsam, dass es weiter untersucht werden sollte. Und wir brauchen noch mehr Daten, um Genaueres zu erfahren und die kosmische Botschaft zu entziffern."
Ranjan Laha forscht als Postdoc in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Joachim Kopp, Professor für Theoretische Teilchenphysik am Mainzer Exzellenzcluster "Precision Physics, Fundamental Interactions and Structure of Matter" (PRISMA).